24|02|17

2017 und darüber hinaus

Im AVE von Barcelona nach Lyon, Abfahrt frühmorgens um 7.20, herrscht Stille. Die wenigen Passagiere sitzen vor ihren Laptops oder lesen Zeitung. Sicherheitspersonal patrouilliert mit forschen Gesichtern durch die Waggons, eine leider neuere Begleiterscheinung jeglichen Reisens.
An meinem Platz ist das Laptop ebenfalls aufgeklappt.

Der Zug verlässt Barcelona. Im Dunkel der sich nur langsam lichtenden Nacht ein paar Farbpunkte. Ampeln, Abblendlichter. Nicht lange danach, nicht weit von der französischen Grenze, zerrt der Wind an den Wipfeln der Bäume, die Sonne nicht intensiv, taucht die karge, eigensinnige Landschaft in ein eher fahles Licht. In der Ferne die Vorläufer der Pyrenäen, die Gipfelspitzen sind vereinzelt weiss gesprenkelt.  Es geht vorbei an kleinen, oft verlassenen und verlotterten Weilern, eine ganze Gruppe Windräder drehen ihre Arme, um Energie zu erzeugen; Perpignan.
Das Reisen im Zug gibt uns zumindest für eine bestimmte Zeit eine Lebensqualität zurück, die uns in den letzten 10 bis 15 Jahren ziemlich gründlich abhanden gekommen ist.
Es geht um eine erneute Entdeckung der Langsamkeit. Zeit zu haben, nicht nur in möglichst kurzer Zeit von A nach B zu gelangen, sondern diese beiden Punkte auch gedanklich in Verbindung zu bringen, indem man die Strecke miterlebt, mitreflektiert: den steten Wandel der Vegetation von Süd nach Nord beobachtet, zwischendurch die durch zahllose Wellen durchzupftem Etangs zwischen Perpignan und Narbonne bestaunt, einen Sperber beobachtet, wie er sich mit schnellem Flügelschlag bewegungslos an Ort in der Luft hält, um nach Beute zu suchen.
Vielleicht denkt man auch an Dantes Schrift «Besteigung des Mont Ventoux», eine Art erster literarischer Landschaftsmalerei und weit mehr als das.
Gehen, nachdenken, beobachten: Eine vorzügliche Möglichkeit, Zusammenhänge zu sehen, oder sie herzustellen, auch kompliziertere Sachverhalte zu verstehen. Keine Eile haben, in Ruhe alles ansehen können, sich Fragen stellen und sie zu beantworten suchen: Dies ist eine Qualität, die doch dem menschlichen Leben so zentral ist und doch weit abhanden gekommen ist – und ohne die man doch eigentlich nur krank werden kann.
Wer keine Zeit hat, genau hinzuschauen, zu lesen, sich zu informieren aus allen möglichen Blickwinkeln, sich zwar langsam, aber stetig fortbewegen: wer gezwungen ist, in kürzester zeit möglichst grosse, weite Distanzen, ja Diskrepanzen zu überwinden, nur auf Bruchstücke aufzubauen im Stande sein, wird aber kein zusammenhängendes Ganzes erkennen können.
Allzu allgegenwärtiges Zeichen für diese bruchstückhafte, einseitig gelagerte und hektisch anmutende Weltsicht ist die Politik, die der neue amerikanische Präsident betreibt, und sowohl in der Innen- wie der Aussenpolitik. Es ist keine Linie zu erkennen, alles wirkt zusammengewürfelt, ohne Zusammenhang, ohne Kohärenz. Es vergeht kein Tag, an dem nicht ein dekretaler Schnellschuss abgefeuert wird – noch oft dazu in schnoddrigem Stil. Sprichwörtliche Elefanten im Porzellanladen. Wobei bei dieser Wucht auch weit weniger Sensibles als Porzellan in die Brüche geht. Ich meine, eine ausschliesslich auf sich selbst bezogene Weltanschauung ist auch ein Resultat dieses manifesten Mangels an Zeit, an Überlegung, Nachdenken, und an Auseinandersetzungen. An der unglaublichen Schnelligkeit der Existenz, wie sie an uns vorbeizieht. Während wir älter und somit rein biologisch gesehen langsamer werden, wird in der Ökonomie, in der Forschung, überall, das Tempo hochgeschraubt. Kaum war man dran – und hat schon den Anschluss verloren. Auch dies begünstigt, dass wir uns an kleinen Schollen, Kieselsteinen mitunter, festhalten.
Und man braucht nicht über den Atlantik zu fahren – auch hierzulande gibt es eine Fülle von Beispielen für eine solche Schnippselweltsicht. Wer mit dem Tempo nicht mithalten kann, muss anderswie kompensieren.
Wir fahren derweilen weiter durch den Süden, Narbonne zieht vorbei. Das Land wird zusehends flach, und viel weniger karg als auf der spanischen Seite der Grenze. Ein sattes Grün dominiert das Bild, die in Reih und Glied ausgerichteten Reben sind bereit, beim ersten beständig warmen Sonnenschein mit Trieben auszuschlagen. Und wenn auch alles um uns herum zur Zeit so harzt und knorzt, bleibt doch die Hoffnung, dass es wenigstens noch ein guter Wein-Jahrgang wird.

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24|02|17