17|12|17

Paradise – Lost?

Ein Mittwoch im September, morgens um halb zehn, in einem kleinen Käffchen im schönen Bergell. Die einen sitzen vielleicht erst oder wieder beim Kaffee, die anderen machen Besorgungen aller Art, in diesem kleinen Dorf sind die Dinge überschaulich – es zählt ja nur knapp über 200 Einwohner.
Dann stürzen, vom vom Piz Cengalo im hinteren Val Bondasca, Felsen ins Tal, als Murgang schiebt sich die Bergmasse bis nach Bondo.
Die Konsternation, ja eher, der Schrecken, war landesweit gross.
Und der Versuch, die Schuld irgendjemandem zuzuweisen, liess nicht auf sich warten: Der Club diskutierte alsbald unter der Leitung von Karin Frei über das Thema «Risiko Berg». Ist der «Berg» nun zu einem «Vulkan» geworden, in dessen Innern es ständig brodelt? Der unberechenbar ist, unstet, unruhig aus dem Innern grummelt und stets unmittelbar vor einem wilden Ausbruch steht? So sind nicht bloss im Bergell ungeahnte Naturkräfte wirksam geworden. Sondern wie grosse Felsbrocken schiebt sich seither die Gewissheit in uns, als mehr oder minder explizite Alpenraumbewohnerinnen und –bewohner, dass diese Erosionen nicht nur die hiesige Geografie unwiederbringlich verändern werden. Sondern dass sie auch in zahlreicher Art und Weise an unserem Selbstverständnis zu rütteln im Stande sind. Und zumindest in der Theorie auch einen Einfluss auf unseren Lebenswandel haben sollten, denn die Veränderungen rühren von den schmelzenden Gletschern her, vom angegriffenen Permafrost, kurz: vom unzweifelhaft menschverursachten Klimawandel. Noch kürzer gesagt: Davon, wovon wir seit Jahren lesen, aber wohl irgendwie in den Untiefen unseres Wissens und Gewissens ruhen lassen.

Wofür stehen denn die Berge überhaupt? Sie sind Sehnsuchts- und Ehrfurchtsort, beängstigend und beeindruckend zugleich.
Betrachtet man Ferdinand Hodlers «Bergportraits», in pastosem Strich die sehnsuchtsblauen Schatten, komplementär gelb die Sonnenhänge dazu. Davor, oft, ein ruhig glitzernder Bergsee, in dem sich die Gipfel narzisstisch widerspiegeln. Paradise. Aber: Vielleicht bald «Paradise – Lost»?

Denn: Wird man diese Gipfel in fünfzig Jahren denn auch noch anhand ihrer charakteristischen Gestalt erkennen?

Nicht zuletzt stiften sie Identität – wahlweise national, regional oder davon losgelöst und in ganz persönlicher Weise. Beispiele gibts mehr als genug: Eine Schweiz ohne Matterhorn? Japan ohne Fujiyama, Kenya ohne Kilimandscharo. Und diese Liste liesse sich beliebig fortführen. Jedem Land seinen heiligen oder geheiligten Berg. Hierzulande aber rührt das Felsmassiv der Alpen ganz besonders an Geschichte und ans Selbstverständnis – wenn auch an ein tendenziell konservatives –. Die Alpen als Zuflucht, als Réduit in turbulenten Zeiten. In die Berge fährt grundsätzlich, wer Ruhe sucht – wenn man dann auch oft genau das Gegenteil findet: einen Rummelplatz.
Wie mit den genannten geologischen, geografischen Veränderungen umgehen? Können wir uns vorstellen, dass das Matterhorn einst nur noch auf alten Fotos diesen charakteristischen Toblerone-Knick aufweist, dass es eventuell bis zur Hälfte seiner einstigen Grösse «abschrumpft»? Denn was mit den Gletschern passiert, dass sie schmelzen oder gar verschwinden, ist zwar alltäglich, doch nicht so beeindruckend, denn Gletscher sind flach, haben nicht diese visuelle Kraft und ragen, eben, nicht in den Himmel…
Wandel, Verwandlung, Umgestaltung; Veränderung. Ja, auch Fortschritt, Evolution – sind gemeinhin positiv konnotierte Begriffe.
Angesichts der vorhin genannten Phänomene haben sie eine zusehends negative, ja bittere Konnotation. Doch: Das Rad zurückdrehen ist keine Option – denn seit jeder sind sind Wandel und Fort-Schritt Konstanten der menschlichen Existenz. Worauf warten wir also…

(Quellen: Tages-Anzeiger, http://www.srf.ch/sendungen/club/risiko-berg, DER SPIEGEL, 2017)

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